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2011 / 2013 / 2015 /2017 / 2019 / 2021
Kunstbiennale in der Festung Franzensfeste - Italien
Hartwig Thaler
Idee / Konzept / Künstlerische Leitung
Information:
Allen alles?
Manche gaben an Hilfe und Unterstützung alles
manche ließen an Niedertracht nichts aus.
Manche verloren alles, manche machten Gewinn.
Die einen verhielten sich ohne Ehre,
die anderen wuchsen über sich hinaus.
Manche diffamierten, denunzierten, hassten.
Andere versuchten zu verstehen, was das Virus aus uns macht
mit unseren einsamen Körpern,
welche Härte es uns abverlangt, welche Tapferkeit,
und wie viel Bereitschaft zum Versöhnen nötig wird.
Jedes Land, jede Ortschaft, jeder letzte von Menschen besiedelte Fleck auf dieser Erde w ar heimgesucht. Jeder Mensch ist eingeweiht und eingebunden. Die menschliche Weltgemeinschaft war noch nie so vereint - vereint von einem Virus,und dennoch schafften wir es, alle Risse zu vertiefen. Wie der Tod, machte auch der Virus keine Unterschiede zwischen arm und reich, zwischen demokratisch oder autokratisch geführten Ländern. Aber mit ihm verschärften sich die Unterschiede, die lange vor dem Virus existierten. Die ungleichen Gewichte in unseren Systemen, sie lasteten schwerer denn je, sie trieben neue Wunden in die nie geheilten, nie ausgeglichenen, nie behobenen. Die alten neuen Ungerechtigkeiten schreien in den Himmel – weltweit, zahllos.
In manchen Ländern sind bis heute keine Impfstoffe angekommen, in anderen verweigern die Machthaber, dass überhaupt geimpft wird.
Wer hätte gedacht, auf welch schicksalhafte Weise die Menschen in der Bekämpfung einer tödlichen Seuche von ihren Regierungschefs abhängen. Davon, ob diese demokratisch oder autokratisch tickten, ob sie auf die Betroffenen in den Krankenhäusern reagierten, oder auf die eigene Elite. Tausende, wenn nicht Millionen Menschen starben am blindwütigen Macht- und Eigeninteresse ihrer Präsidenten. Die Beobachtung von Irene Kacandes wurde nach einem Jahr leider mehr als bestätigt.
„Es macht einen Unterschied, ob du in Deutschland, in den USA, oder in Brasilien bist, in der Stadt lebst oder auf dem Land. Ob du Zugang zu sauberen Wasser hast und zu einer Gesundheitsversorgung. Es macht einen Unterschied, ob deine Bedingungen es zulassen, den nötigen Abstand einzuhalten. Es macht einen Unterschied, ob du dich jeden Tag
aussetzt, indem du den Kranken hilfst, Krankenhauswäsche reinigst, Müll einsammelst, an der Kasse sitzt oder die Toten begräbst. In den meisten unseren Gesellschaften sind diese Dienste auf die benachteiligten Gruppen verteilt. Die gegenwärtigen Proteste scheinen von
Leuten geführt, die sich um die anderen wenig zu kümmern scheinen.“ (Irene Kacandes, Vortrag, Dartmouth College, New Hampshire 2020)
Diese Aufzählung des Ungleichen ließe sich weit über diesen Katalogtext hinaus fortsetzen. Oder sich abkürzend fragen: Ist eigentlich irgendetwas gleich für alle? Weder die Luft, noch der Tod, noch das Virus sind: gleich für alle. Bleibt noch das gleiche Recht für alle, den eigenen Verstand zu gebrauchen. Doch wie wird dieser Verstand genutzt? Für wen? In welchem Interesse. Im Interesse aller? Die Bedeutung des solidarischen Handelns war vom ersten Tag der Pandemie an Thema, nicht zufällig, denn es stellt die Voraussetzung für die erfolgreiche Bekämpfung der Seuche.
"Die gegenwärtigen Proteste scheinen von Leuten geführt, die sich um die anderen wenig zu kümmern scheinen.“ Mit den Protestierendieen, "die sich um die anderen wenig zu kümmern scheinen", zielt Irene Kacandes auf die Leugner der Pandemie, auf jene, die sich der neuen Realität und dem, was sie uns abverlangt, verweigern. Gemeint sind letztlich jene, die über das Leid der anderen hinwegsehen, deren Leben und deren Existenz durch Covid ausgelöscht wurde. Das sind dies 3,7 Millionen Todesopfer zum heutigen Zeitpunkt (Juni 2021; Quelle: Statista), berufliche Existenzen, die ebenso vernichtet wurden, ausgenommen. Wer auf diese Zahlen schaut und etwas weiter, müsste mit jedem einzelnen Toten dessen Leid und das der Angehörigen und Freunde erahnen - und wenigstens aus Demut davor das eigene Ungemach hintanstellen. Werden die heutigen Leugner später diejenigen sein die sagen: „Wir haben von alldem nichts gewusst“?
Die menschliche Begabung, über die Vorstellungskraft die Realität zu begreifen und sie anzuerkennen, bevor sie einen beherrscht, mag nicht allen in gleicher Weise gegeben sein. Sie wurde uns schon als Kinder beigebracht: „Vorsicht, die Ofenplatte ist heiß, du kannst dich verbrennen.“ Die Fähigkeit, etwas als real anzunehmen, bevor es zur Gänze real wird und zerstört, ist nicht nur den Vernunftbegabten gegeben. Es ist eine Entscheidung. In Zeiten einer Seuche ist es eine politische Entscheidung.
Die Realität einer Seuche anzuerkennen, setzt neben der kognitiven die soziale Kompetenz und die Bereitschaft voraus, neben der eigenen Realität die vielen unterschiedlichen Realitäten der anderen wahrzunehmen, besonders die, die es am härtesten trifft. Mit Corona wurde deutlich, wie tief und feinverästelt das solidarische Prinzip im demokratischen System verankert ist, wie unmittelbar konkret ablesbar und existenziell die Folgen für die Menschen sind. Dort, wo diese Wurzeln lose sind - oder gekappt wurden, sind die Folgen buchstäblich tödlich.
Es waren anderthalb Jahre Tag der offenen Tür für die Demokratie.
In diesem behüteten Gehege westlicher Demokratien, in dem die Meinungsfreiheit, die Pressefreiheit, die gleichen Grundrechte und die Rechtsstaatlichkeit garantiert scheinen, zeigten sich die anderen Systeme in ihr, die ganz und gar nicht auf die Gleichheit aller bauen. Antidemokratische Systeme, wie das patriarchale, reaktionäre Zuschnitte, der omnipräsente Sexismus, durchwandern die Gleichheit - und beschneiden die Freiheit vieler. Privilegien für die einen, sind Ausgrenzungen für die anderen, und sie sind von Anfang an in den Strukturen, in den Institutionen, in den Gewohnheiten und im Denken der Menschen verankert. Und ja: die Menschen handelten unterschiedlich. Die extreme Zeit einer Pandemie machte deutlich, nach welchen Systemvorstellungen sie handelten.
In den Usa (und nicht nur dort) nahmen die rassistisch motivierten Gewaltverbrechen zu, und vielfach ist es die Polizeigewalt, die tötet. Täglich werden mit unfassbarer Brutalität afroamerikanische Menschen niedergetreten und getötet, eine Gewalt, die seit Beginn der amerikanischen Demokratie in ihr eingeschrieben ist. Neben dem staatlich inhärenten Rassismus, der sich gegen Leib und Leben der Menschen richtet, ist er auch weit davon entfernt, die Kulturgeschichte der anderen, nicht weißen Bevölkerungsgruppen überhaupt wahrzunehmen, geschweige denn, sie als us-amerikanische Kultur- und Zivilisationsgeschichte zu denken.
Mit der Pandemie verdoppelten sich die Gewaltverbrechen an Frauen und Mädchen. Dabei waren es schon 2017 nach einer weltweiten Erhebung 87 000 Frauen und Mädchen, die umgebracht wurden (UNODC). Ausgelöscht allein, weil sie weiblichen Geschlechts sind. In Italien stirbt seit der Pandemie jeden Tag eine Frau, Südtirol zählt mit und treibt die Zahl noch höher. (Eures-Bericht)
„Warum ist es so leicht zu töten?“ fragt ein Priester die Trauernden bei einer Beerdigung von Francesca Fantoni, die getötet, zerstückelt und im Park entsorgt wurde.
Auch der Kampf gegen die Verbrechen an Frauen ist einer gegen die Normalität von Gewalt. Ein Kampf, der es gegen die zahllosen alltäglichen Momente akzeptierter Ungleichheit aufzunehmen hat. Gegen einen kulturellen Habitus, der die männliche Überlegenheit wie selbstgegeben voraussetzt. In der die Über- und Unterordnung keinen Gewaltakt an sich darstellt, sondern das normale Ordnungsgefüge. In der die Vernichtung nach verbaler und psychischer Terrorisierung eine letzte Konsequenz darstellt.
Eine Gewalt, die in der patriarchal überlieferten Konstruktion von Männlichkeit gründet, die in Abgrenzung zum Weiblichen errichtet wurde.
„Die gefährlichste Phase im Leben einer Frau ist, wenn sie sich trennt.“ So beschreibt es Monika Hauser auf der Basis von empirischer Erhebung (Vortrag Summer School Südtirol 2020). Es sagt viel über die Beschaffenheit des männlichen Subjekts aus.
Es sind Kulturkämpfe, die stattfinden. Und das nicht nur im häuslichen und familiären Bereich, wo am häufigsten getötet wird. Auch im öffentlichen Bereich, wo es darum geht, welche zivilisatorischen Prozesse geführt werden, welche Debatten nötig sind, wer die Deutungshoheit beansprucht, werden Frauen zuerst herabgewürdigt und bekämpft –besonders natürlich dann, wenn sie eine Gegenstimme formulieren.
"Frauen, die Zukunftsthemen aufbringen, sind die größte Provokation für viele Frauenhasser Die Reaktionen wollen weder Frauen an der Macht noch Zukunft, sie wollen ihre Welt zurück." (Jagoda Marinić, SZ 10.06.2021)
Es ist bekannt, dass Frauen wesentlich öfter mit Diffamierungen, Shitstorms und Hate-Speeches in Social Media und Presse zu tun haben, dass sie ungleich härter, perfider und brutaler angegangen werden, vernichtender. Das bestätigt die Schriftstellerin Tanja Dückers, die zehn Jahre lang im wöchentlichen Zeit-Magazin die Diffamierungen von Frauen in der Öffentlichkeit beobachtet und kommentiert hat.
Für manche ist die gleiche Mitsprache von Frauen im öffentlichen Feld noch immer unvorstellbar genug, um mit allen Sorten von Hass zu reagieren, offen, subtil, perfide. Und es ist wichtig, zu benennen, was es ist: Es ist Frauenhass, es ist Misogynie. Und die hat ihre Ursprünge. Und solange es Akteure gibt, die ihre Privilegien wie Waffen in die Hand nehmen, wird es statt der gemeinsamen Suche nach Lösungen in schweren Zeiten, zusätzliche Grabenkämpfe geben.
Wir werden nach dieser Zeit, in der wir viel Gift geschluckt haben, und manches Wasser, das wir schluckten, in Tränen ausgeweint haben,
in einer Zeit, wo das Fluide im Sozialen, in den Beziehungen, in den Freundschaften auszutrocknen schien, und wo die Kunst nicht heilen durfte, weil sie weggesperrt blieb, uns fragen können, was hat trotz allem geholfen, was hat geheilt, und auch, wie oft war, was half, von unserer Hand gereicht.
für 50x50x50
2021